Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in welchem der Arzt versuchte, mir die Diagnose mitzuteilen. Ich sprach zu ihm: "Sie schauen mich irgendwie so an, als ob Sie mir jetzt etwas ganz Schlimmes mitteilen wollten."
Zwei Jahre später sitze ich in einer Ferienwohnung in Oberbayern und beobachte meine drei Kinder, wie sie gemeinsam auf dem Boden tollen. Lautes Lachen füllt den Raum und es wird mir ganz warm ums Herz.
Als die Diagnose von Amir im Familien- und Freundeskreis bekannt wurde, kamen zwei Fragen immer wieder.
1. Wusstest du vor der Geburt Bescheid?
2. Hättest du abgetrieben, wenn du es gewusst hättest?
Jedes Mal, wenn ich diese Fragen gestellt bekomme, muss ich an den Ausdruck im Gesicht des Arztes denken. Er war voller Mitleid. Ich höre wieder seine Stimme, die vorsichtig nach den richtigen Worten sucht. Sie sind bedächtig und werden langsam ausgesprochen. Ich verstand damals nicht, warum er mich so ansah...
Heute verstehe ich aber, was er mir sagen wollte. Es ist dasselbe, was mir jeder unterschwellig vermittelt, wenn ich gefragt werde, ob ich abgetrieben hätte, hätte ich während der Schwangerschaft schon Bescheid gewusst. Die Antwort auf diese Frage habe ich lange vor mich hingeschoben, da ich nie in dieser Situation war. Ich musste nie entscheiden, ob ein Mensch ein Recht auf dieses Leben haben dürfte oder ob ich dieses Recht mit einem Schwangerschaftsabbruch beenden sollte.
Seit einiger Zeit aber stelle ich mir diese Frage sehr oft. Es sind dann immer sehr schöne Momente, in denen Amir lacht und sichtlich Freude hat, die mich zum Nachdenken bringen.
Sucht man Informationen über Epidermolysis Bullosa, erhält man ein Bild von der Erkrankung, dass das Leben voller Einschränkungen und Aufopferungen sei.
Meine Schwangerschaft hätte ich damit verbracht, mir vorzustellen, wie beschränkt das Leben meines ungeborenen Kindes sein würde, weil mich jeder das glauben lassen wollte.
Mein Blick schweift von meinen drei Kindern ab zum Fenster. Ich sehe raus auf die Chiemgauer Berge und spüre, wie sich meine Brust zusammenschnürt, weil ich meine, zu wissen, wie ich mich entschieden hätte. Dieser Gedanke schmerzt.
Die Befürchtungen während der Schwangerschaft wären unbegründet. Nicht das Leben meines Sohnes ist beschränkt, sondern das meine war es bis Amir in unser Leben trat und uns eine Welt öffnete, die uns vorher verborgen war.


Ich hatte bis zu seiner Geburt nie Berührung mit Menschen, die dauerhaft körperlich oder geistig behindert sind. Heute gehe ich zwei Mal die Woche in die Kinder-Reha Schweiz und treffe die wundervollsten Kinder und ihre Familien, aber auch ihre Therapeuten und Betreuer. Auch wir haben ein tolles Betreuungsteam von sehr engagierten und emphatischen Menschen.
Ich bin froh, musste ich damals keine Entscheidung treffen, aber denke an meine Kinder, die nun wissen, dass das Gendefekt eventuell an sie weitergegeben wurde. Was werden sie machen, wenn sie eines Tages einen Kinderwunsch haben?
Dieser Text gilt nicht nur ihnen, sondern auch dir, liebes Mami oder lieber Papi, solltest du vor einer ähnlichen Entscheidung stehen. Ich kann nur für mich sprechen und bin sehr glücklich und dankbar, meinen kleinen Schmetterling zu haben. Habe den Mut, aus deiner Komfortzone zu treten.
Es ist nicht das Ende der Welt, sondern erst der Anfang von so vielem mehr.
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